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Rechtsanwaltskanzlei Nikolai Odebralski

§362 Nr. 5 StPO – die „umstrittene Wiederaufnahme-Vorschrift“ ist verfassungswidrig

Der §362 Nr. 5 StPO trat am 30.12.2021 in Kraft und galt seitdem als „umstrittene Wiederaufnahme-Vorschrift“. Nicht einmal zwei Jahre hielt dieser stand, bis nun am 31.10. 2023 mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 900/22) entschieden wurde: Der §362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig und damit nichtig.

In §362 Nr. 5 StPO „Wideraufnahme zuungunsten des Verurteilten“ heißt es – oder vielmehr müsste man nun sagen hieß es: „die Wideraufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,  wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochen Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, des Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens gegen eine Person verurteilt wird."

Dies sollte auch für bereits rechtskräftige Freisprüche, also rückwirkend gelten. Sprich ein rechtskräftig freigesprochener Mordverdächtiger müsse sein Leben lang damit rechnen, dass das Strafverfahren gegen ihn bei neuer Beweislage wieder aufgerollt wird.

 

Der Fall „Frederike“

Die Gesetzesänderung gilt als Reaktion auf den Fall „Frederike“.

Der verdächtige Mann wurde 1983 – sprich vor mehr als 40 Jahren rechtskräftig von dem Vorwurf freigesprochen, die 17-jährige Frederike von Möhlmann vergewaltigt und getötet zu haben. Das Gesetz ermöglichte nun durch die „neue Nr. 5“ die Wiederaufnahme des Verfahrens im Jahr 2021 gegen den inzwischen über 60-jährige Ismet H., dieser sollte nun anhand der DNA-Spur überführt werden. Im Jahr 2012 fand man Spermaspuren auf einem Stück Toilettenpapier im Slip der Getöteten, welche den damals bereits Freigesprochenen belasten sollten.

Der Mann legte daraufhin Verfassungsbeschwerde gegen den von der damaligen GroKo-Regierung eingeführten §362 Nr. 5 ein – der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts gab dieser statt.

 

Verfassungsmäßige Bedenken übertrumpfen

Der „Freispruch unter Vorbehalt“, wie er teils betitelt wurde, sorgte vor allem deswegen für verfassungsmäßige Bedenken, weil dieser gegen das Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG verstoße, sowie gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG iVm. Art. 20 Abs. 3 GG. Es galt für das BVerfG also abzuwägen. Auf der einen Seite die genannten und sehr krassen verfassungsmäßigen Bedenken, auf der anderen Seite der Wunsch den Fall „Frederike“ nach all den Jahren endlich aufzuklären und Gerechtigkeit zu schaffen. Wenn man so will, ist es der Friede des Freigesprochenen, der dem Frieden der verbliebenen Angehörigen gegenübersteht.

Jedoch ist dabei entscheidend zu betonen, dass Beweismitteln in einem Ermittlungsverfahren eben nur eine gewisse „Indizwirkung“ und sich eine Belastbarkeit des Verdächtigen erst herausstellen muss. Dies geschieht in der Regel nicht nur in einem einzigen Prozess, sondern nimmt teilweise einen langjährigen Verlauf an.

Dies sei mit dem Mehrfachverfolgungsverbot unvereinbar. „Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit absolut Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit“ erklärt das BVerfG. “Der Einzelne soll darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals (wegen desselben) belangt werden kann“.

Zudem stelle die Möglichkeit die §362 Nr. 5 StGB eröffnet, diesen rückwirkend auf rechtskräftige Freisprüche anzuwenden, die vor Erlass der Vorschrift ergingen, eine „echte“ Rückwirkung dar, die auch nicht ausnahmsweise zulässig sei. Ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot liege mithin ebenfalls vor. "Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruchs nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann", so das Gericht.

Art. 103 Abs. 3 GG verleihe dem Vertrauensschutz des rechtskräftig Freigesprochenen Verfassungsrang, so dass das gegenüberstehende Interesse an einer vielleicht doch noch möglichen Aufklärung und damit der angestrebten materialen Gerechtigkeit der verbleibenden Angehörigen von Frederike dem “Seelenfrieden” des Freigesprochenen weichen muss.

 

Quellen: lto.de, dejure.org, blog.burhoff.de, community.beck.de

 

 

 

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