Anwalt für Sexualstrafrecht informiert
Kein Prozess trotz DNA-Spuren – Die Verfassungswidrigkeit des §362 Nr. 5 StPO

Eindeutige DNA-Spuren und trotzdem kein Prozess: Der Fall Frederike von Möhlmann aus den 80 Jahren sorgt bis heute für Aufsehen.
1981 soll die 17-Jährige Frederike von Möhlmann in der Nähe von Celle auf ihrem Nachhauseweg vergewaltigt und ermordet worden sein. Ein Tatverdächtiger wurde schnell gefunden, dann aber wegen Zweifeln an seiner Täterschaft 1983 freigesprochen.
Dem Fall wurde dann im Februar 2012, also 30 Jahre nach dem Geschehen, noch einmal neues Leben eingehaucht. Mithilfe einer DNA-Analyse wurde die Spur noch einmal neu ausgewertet. Die DNA-Analyse, die es damals in den 80-Jahren noch nicht gab, brachte neue Indizien, die doch auf den Mann als Täter hinweisen. In dem Slip des toten Mädchens fanden sich eindeutig Spermaspuren des damals bereits Tatverdächtigen. Doch ein neuer Prozess war aufgrund des früheren Freispruchs nicht möglich – bis eine Gesetzesänderung des §362 StPO dies ändern sollte.
Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten, §362 StPO
Meist sind es Wiederaufnahmeverfahren zugunsten der Person, die eingeleitet werden. Es kann jedoch auch Wiederaufnahmeverfahren zu Ungunsten der betroffenen Person kommen, also wenn eine Person in einem Verfahren ursprünglich freigesprochen wurde. An diese Wiederaufnahmeverfahren sind jedoch hohe Anforderungen zu stellen, die sich aus dem §362 StPO ergeben. Das jemand in derselben Sache, noch einmal strafrechtlich verfolgt werden darf geht daher nur in vier besonderen Härtefällen: wenn sich eine Urkunde nachträglich als unecht oder verfälscht herausstellt, wenn ein Zeuge oder Sachverständiger vorsätzlich oder fahrlässig eine falsche Aussage, bzw. ein falsches Gutachten erstellt hat, wenn einem Richter oder Schöffen, der dem ergangenen Urteil mitgewirkt hat, eine Verletzung der Amtspflicht vorgeworfen werden kann, oder wenn durch den Freigesprochenen selber ein glaubwürdiges Geständnis der Tat abgelegt wird.
Am 30.12.2012, also noch einmal rund 10 Jahre, wurden diese Fälle noch um einen weiteren ergänzt: den Fall des §362 Nr. 5 StPO. Eine Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten sollte auch dann möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der Freigesprochene doch verurteilt wird.
Diese Gesetzesänderung gab vor allem dem Vater der verstorbenen Frederike, der es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, Gerechtigkeit für seine verstorbene Tochter zu erwirken, neue Hoffnung. Die DNA-Spur stellt ein solches neues und vor allem eindeutiges Beweismittel dar, das den damals Freigesprochenen als mutmaßlichen Täter identifiziert. Der Vater von Frederike, sowie viele andere die den Fall über Jahre hinweg verfolgt haben, glaubten daher, dass der Täter nach 40 Jahren nun endlich seine gerechte Strafe bekommt – denn Mord verjährt nicht. Doch so sollte es nicht kommen.
Zunächst einmal stand fest: Es wird neu verhandelt. Doch der (wieder) Angeklagte erhob daraufhin zusammen mit seinem Strafverteidiger Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Der §362 Nr. 5 StPO sei verfassungswidrig und damit nichtig.
Entscheidung des BVerfG: §362 Nr. 5 ist verfassungswidrig
Seit Oktober 2023 liegt nun die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in letzter Instanz vor. Der §362 Nr. 5 ist tatsächlich verfassungswidrig. Eine Wiederaufnahme des Freigesprochenen zuungunsten des Verurteilten aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel ist nicht möglich. So darf auch der mutmaßliche Täter im Fall Frederike nicht erneut vor Gericht gestellt werden.
Art. 103 Abs. 3 GG: „Ne bis in idem“
Das Bundesverfassungsgericht begründet seine Entscheidung mit dem Schutz der Menschenwürde. Der §362 Nr. 5 StPO sei unvereinbar mit dem Art. 103 Abs. 3 GG. Dieser Artikel schreibt neben einem Mehrfachbestrafungsverbot auch ein Mehrfachverfolgungsverbot vor. Es gelte immer noch der wichtige Grundsatz im Strafrecht „ne bis in idem“ also „Nicht zweimal in derselben Sache“. Niemand darf also wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden. Wenn ein Strafprozess einmal rechtskräftig abgeschlossen wurde, dann darf dieser nicht noch einmal neu aufgerollt werden. Daran wird noch einmal deutlich, was für eine enorme Auswirkung ein Fehlurteil haben kann. Einmal verurteilt, oder einmal freigesprochen, gibt es „kein Zurück mehr“.
Man könnte meinen, dass ein Freigesprochener wohl weniger schutzwürdig erscheint, weil er eben nicht bestraft wurde. Doch das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass auch ein Freigesprochener Rechtssicherheit genießen soll, und deswegen eben genauso schutzwürdig ist wie ein Verurteilter. Niemand soll sein Leben lang damit rechnen müssen, wieder angeklagt zu werden. Irgendwann müsste der Freigesprochene Rechtssicherheit bezüglich seines Freispruchs zukommen.
Rückwirkungsverbot
Zudem verstoße das Gesetz gegen das Rückwirkungsverbot, welches sich wiederum aus dem Art. 103 Abs. 3 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG ergibt. Dies bedeutet, dass ein neues Gesetz nicht auf bereits abgeschlossene Fälle angewendet werden darf. Änderungen dürfen nur für zukünftige Sachverhalte gelten, damit sich Menschen auf die bestehenden Gesetze verlassen können. Die Rechtssicherheit muss gewahrt werden.
Nur wenn ein Fall noch nicht abgeschlossen ist, können neue Gesetze greifen. Da dies im Fall Möhlmann jedoch nicht zutrifft, waren sich die Richter einig, dass eine erneute Verhandlung eine unzulässige echte Rückwirkung darstelle.
Eine Neuverhandlung des Falls Möhlmann wird es also nicht geben. „Dem Senat ist bewusst, dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin (…) schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist“, so Doris König, Vizepräsidenten und Vorsitzende des Zweiten Senats bei der Urteilsverkündung.
Quellen: Mordlust – der Podcast, swr.de, bundesverfassungsgericht.de