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Sexualstraftäter kommt frei: Hat der BGH zu langsam gearbeitet?

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat einen Untersuchungshäftling freigelassen, weil der Bundesgerichtshof zu langsam gearbeitet haben soll. Ein ungewöhnliches Vorgehen des Oberlandesgerichts.

Dem ganzen ist vorausgegangen, dass der Angeklagte wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellemm Missbrauch von Jugendlichen in sechs Fällen, wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, wegen Sich-Bereiterklärens zur Begehung eines Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen, wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 27 Fällen, wegen Sich-Verschaffens von kinderpornografischen Schriften und wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Auf die Revision des Angeklagten hatte der Bundesgerichtshof den Schuldspruch dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte anstatt des versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 27 Fällen des versuchten sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 19 Fällen schuldig ist. Des Weiteren hatte der BGH sämtliche Einzelstrafen, mit Ausnahme der Freiheitsstrafe von zwei Jahren im Fall 46 der Urteilsgründe, aufgehoben. Im Übrigen wurde die Revision verworfen und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen worden.

Daraufhin hatte das Landgericht erneut verhandelt und im Juli 2021 eine geringere Freiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten verhängt sowie die Unterbringung des Mannes in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Auch mit einer weiteren Revision hatte der Angeklagte im Oktober 2023 wieder Erfolg. Diesmal aber nur hinsichtlich der Frage, ob seine Steuerungsfähigkeit entsprechend §21 StGB erheblich vermindert war.

Das Verfahren zog sich immer weiter hin. Im März 2024 beantragte der Verteidiger eine Haftprüfung beim Landgericht Wiesbaden, wohin der Bundesgerichtshof den Fall zum zweiten Mal zurückverwiesen hatte. Mittlerweile saß der Angeklagte schon seit Januar 2018 hinter Gittern. Dieser beantragte durch Schriftsatz seines Verteidigers Haftprüfung. Die als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts Wiesbaden setzte den Vollzug des Haftbefehls aus und führte zur Begründung an, dass dies aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten sei. Der Fluchtanreiz sei angesichts des aktuell noch höchstens zu erwartenden Strafmaßes nicht mehr so hoch, dass man ihm nicht mit Auflagen begegnen könnte. Auch der Wiederholungsgefahr lasse sich durch Auflagen entgegenwirken. Dagegen legte die Generalstaatsanwaltschaft Beschwerde ein - allerdings ohne Erfolg.

Beschleunigungsverbot verletzt?

Das Oberlandesgericht geht zwar davon aus, dass Fluchtgefahr gemäß §122 Abss.2 Nr.2 StPO  besteht, jedoch sei die Annahme von Wiederholungsgefahr unbegründet. Dafür würde das letzte Sexualdelikt zu lange zurückliegen. Denn die Voraussetzung dafür wäre, dass der Angeklagte Anlasstaten im Sinne des §112a Abs.1 StPO begangen hat und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass er vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begeht. Hierfür bestehen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte. Insbesondere sei aber das Beschleunigungsverbot verletzt. Dies folgt aus Art.2 Abs.2 S.2 GG und Art.5 Abs.3 S.1 2. Halbsatz MRK. Das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung würde verlangen, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte von Anfang an alle Maßnahmen einleiten, die die Ermittlungen schnellstmöglich abzuschließen. Daher könne die Untersuchungshaft nicht mehr als erforderlich angesehen werden, wenn ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorliegt. ,,Allerdings vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Freiheitsrecht des Untersuchungsgefangenen, wenn der Schuldspruch rechtskräftig ist, da bei dieser Verfahrenslage die Unschuldsvermutung nicht mehr gilt.’’ Hierbei ist nicht allein maßgeblich, ob es zu einer nicht mehr zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerung, sondern auch, ob die zu erwartende Strafe und der Grad des Verschuldens der Justiz an der Verfahrensverzögerung berücksichtigt werden.

Hat der BGH getrödelt?

Und genau das kritisieren die Frankfurter OLG-Richter am Vorgehen des Bundesgerichtshofs. Bis zur zweiten Vorlage des LG-Urteils im Juli 2021 sei beim BGH alles korrekt abgelaufen. Die zwei Verteidiger erhielten den Richterspruch im Oktober und schickten die Begründung ihrer Revision im November an die Ausgangsinstanz. Ungefähr gleichzeitig müsste auch die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft angekommen sein. Im Januar 2022 schickte die Generalstaatsanwaltschaft einen Bericht an die Bundesanwaltschaft, wo die Unterlagen alsbald eintrafen. Die Behörde übersandte prompt den Antrag, den Wunsch auf Aussetzung des Haftbefehls abzulehnen.

Der BGH ließ jedoch auf sich warten. Erst am 24.10.2023 gab der BGH Senat durch einstimmigen Beschluss dem Rechtsmittel des Angeklagten statt und wies darauf hin, dass die Tatrichterinnen und -richter die lange Dauer der Untersuchungshaft zu berücksichtigen hätten. So werfen die Frankfurter Richter den Kollegen vom Bundesgerichtshof vor, mehrere Monate Verfahrensverzögerung auf ihr Sündenkonto zu addieren.

Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr gerechtfertigt

In dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom 06.06.2024 heißt es: ,,Die zu erwartende Strafe kann unter Berücksichtigung der bereits gegen den Angeklagten vollzogenen, anrechenbaren Untersuchungshaft von sechs Jahren und knapp drei Monaten nicht mehr als erheblich angesehen werden. Ausgehend von der zuletzt gegen ihn verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und neun Monaten dürfte unter Berücksichtigung der vom Bundesgerichtshof für erforderlich erachteten Prüfung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu den jeweiligen Tatzeiten und einer sich daraus möglicherweise ergebenden Strafrahmenverschiebung gemäß §§ 49StGB sowie der überlangen Verfahrensdauer im Revisionsverfahren eine Strafe von mehr als sieben Jahren und weniger als acht Jahren Freiheitsstrafe zu erwarten sein, so dass allenfalls noch ein Strafrest von zehn Monaten bis zu einem Jahr und acht Monaten zu vollstrecken sein wird. Ob die Anordnung der Sicherungsverwahrung erneut in Betracht kommt, bleibt mit Blick auf das Ergebnis des vom Landgericht Wiesbaden in Auftrag gegebenen neuen Sachverständigengutachtens abzuwarten. Die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Angeklagten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit und dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung sowie -vollstreckung rechtfertigt angesichts der erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der Dauer der bislang vollzogenen Untersuchungshaft von mehr als sechs Jahren die Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr.

Quellen: OLG Frankfurt a.M, Beschl. v. 06.06.2024 - 1 Ws 159/24, beck-online.de

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